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Astronautalis »Pomegranate«

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Bevor es um den »Granatapfel« geht, sprengen wir uns geschichtlich ein wenig zurück: unter dem Künstlernamen Astronautalis hat Andy Bothwell aus Seattle (Washington) Ende 2006 sein zweites Album »The Mighty Ocean & Nine Dark Theaters« veröffentlicht. Hierzulande nahm davon kaum jemand Notiz, weil Bothwells Label Fighting Records scheinbar Europa nicht auf dem Büro-Globus hatte. Lediglich in der Hamburger Radiosendung »Sunday Service« war ein Stück von Astronautalis zu hören, das nicht mehr los ließ. Nach der Ausstrahlung per UKW, Kabel und Livestream auf FSK wurden Plattenimporte aus den USA angeleiert oder zumindest die Soulseek-Bittorrent-Traktoren angeworfen. Astronautalis galt seitdem als »Geheimtip«, den man sich mit Bierfahne abends gegenseitig ins Ohr schrie. Eigentlich komisch: im Zeitalter der digitalglobalen Käseglocke gibt es doch sowas wie »Geheimtips« eigentlich gar nicht mehr. Im Netz ist alles zu jeder Zeit vorrätig: hör‑, anschau‑ und archivierbar. Nur bevor man irgendwas finden kann, muss man wissen, wonach sich zu suchen lohnt. Die ersten beiden Alben von Astronautalis schwirrten durch die intergalaktischen Kupferleitungen und Satelliten-Strahlen aber fanden in old europe kaum den Weg in gehörte Musiksammlungen. Das dürfte sich mit der neuen Veröffentlichung zum Glück ändern. »Pomegranate« steht im Gegensatz zum Vorgänger dank Eyeball Records auch in hiesigen Plattenläden und wird gerade als Promovorabkopie durch die ohrenverschmalzten Redaktionsstuben gereicht.

»Wow, ist der bei Anticon?« dürfte dort wohl häufig die erste Frage lauten. Zu genau würde Astronautalis ins Labelprofil der Avantgarde-Hip-Hop-Kollektivs aus der Bay Area passen. Die musikalischen Schnittmengen zu Why?, Dosh, Alias oder Themselves lassen sich nicht abstreiten. Auch der ehemalige Battlerapper Bothwell – eine Information, die man bei all der Melancholie der Platte kaum glauben kann – knattert seine Texte zu einem musikalischen Fächer aus Folk, Electro, Singer-Songwriter-Stücken und sogar Disco. Berührungsängste treiben Astronautalis jedenfalls nicht um. Er rappt und singt auf reduzierten Gitarren‑, Streicher‑, Trompeten‑ oder Pianospuren – also nicht über das überproduzierte Beat-Zeug, das den Mainstream-Hip-Hop trägt. Aber keine Angst: während die Verwendung von Geige, Piano und Trompete im Popkontext oft zurecht den Verdacht auf kitschig-sülzige Klangfarben weckt, hat Bothwell die Instrumente klug in seinen molllastigen Sound integriert. Sie werden durch Dissonanzen und gegenläufige Bewegungen gebrochen und mit einem Gesang versehen, der an nicht wenigen Stellen leicht angezerrt abgemischt wurde. Dies gibt dem Ganzen noch einen Nachschlag Roughness mit auf den steinigen Weg.

Textlich wagt sich »Pomgranate« an die Geschichte heran, was jedoch mit einem deutschen‑ bzw. europäischen Hintergrund schwieriger zu entschlüsseln ist, als die persönlichen Narrative vom Erwachsen-Werden auf der letzten Platte. Das liegt vor allem an dem Umstand, dass viele Themen us-amerikanische sind. Das Stück »Trouble Hunters« etwa handelt von einem Soldaten der Truppen von George Washington in der Schlacht von Trenton (26.12.1776). »17 Summers« dreht sich um die Beziehung von Henry and Clara Rathbone, einem Paar, das am 14.04.1865 zusammen mit Abraham Lincoln in einer Theater-Loge in Washington saß, als letzterer einem Attentat zum Opfer fiel. Henry Rathbone selbst wurde beim Versuch, den Angreifer in die Flucht zu schlagen, ernsthaft verletzt. 1883 erstach er zunächst seine Frau Clara sowie einige der gemeinsamen Kinder, und versuchte sich schließlich erfolglos das Leben zu nehmen. Das Stück »The Case Of William Smith« befasst sich mit dem Ketzerei-Prozess in den 1870er-Jahren, der gegen den Theologen William Smith wegen eines Artikels in der Encyclopædia Britannica geführt wurde. Mehr will ich wirklich nicht verraten. Denn alles in allem funktioniert »Pomgrenate« musikalisch und textlich tatsächlich wie ein Granatapfel: er muss eigenhändig aufgebrochen werden, um seine Schätze zu bergen. Hinter seiner Schale verstecken sich die Songs. Kleine Geheimnisse vielleicht. Ein »Geheimtip« zum Glück nicht mehr.

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